Der Anhalter

Erinnerungen an 20 gemeinsame Jahr mit unseren Stubentigern.

 

Ming, von 1984 bis 1985 bei uns. Er war etwa eineinhalb Jahre alt, als wir ihn gefunden haben.

Spitzname: Minge-Stinke (seine Hinterausgangsdüfte waren manchmal atemberaubend)

 

Die Suche nach einem schönen Campingplatz für den Urlaub im Sommer 1984 führte uns vier - Rudolf mit Marielle, Thomas und mich mit unseren zwei Motorrädern an einem schönen Samstagmorgen über die Schwäbische Alb.

 

Der Morgen war herrlich - zwar noch etwas kühl, aber die Sonne würde uns sicher bald aufgewärmt haben. Auf der weithin leeren Straße, mitten im Wald, etliche Kilometer vor Zwiefalten und weit weg von anderen Ortschaften, hupte Thomas plötzlich und bremste stark ab. Ich dachte, was hat er denn, ich sehe weit und breit keinen Anlass für diese Aktion! Als das Motorrad zum Stillstand kam, traute ich meinen Augen kaum:

 

Mitten auf unserer Fahrspur saß eine kleine schwarze Katze und schaute uns vier ganz verzweifelt und entschlossen an. Aber was heißt hier Katze - diese arme Kreatur bestand nur noch aus zerzaustem, stumpfem Fell über herausstehenden Knochen und riesengroßen gelben Augen! Dieser Anblick ging uns Katzennarren natürlich durch und durch. Sobald wir abgestiegen waren, fing dieser erbärmlich aussehende Anhalter zu schnurren und mit uns und den Motorrädern heftigst zu schmusen an.

 

Was tun? Als Erste Hilfe servierten wir ihm den Wurstbelag unserer mitgenommenen Vesperbrote, um ihn von der Straße weg zu locken und dass er nicht in der nächsten Minute vor Unterernährung umfallen würde.

 

Ich sah Thomas an und konnte dabei kaum die Tränen zurückhalten vor Mitleid - und er reagierte ganz großartig: „Selbstverständlich nehmen wir dieses Bündelchen Elend mit und sorgen für ihn. Nero muss sich halt dran gewöhnen, dass er keine Einzelkatze mehr ist; das wird schon irgendwie gehen. Wir können diesen Anhalter doch nicht hier sterben lassen, schließlich hat er sich uns ja, zu allem entschlossen, in den Weg gestellt - Tod oder Leben!"

 

Nun fingen die Überlegungen an, wie man eine Katze auf dem Motorrad über mehrere Kilometer transportiert und wo sie am besten bis zum nächsten Morgen untergebracht werden könnte. Die lange Strecke nach Stuttgart mit Katze war am besten am nächsten Tag mit Auto zu organisieren.

 

Thomas schichtete den Inhalt seines großen Tankrucksacks in Rudolfs kleineren um. Dafür kam jetzt ein kuschlig warmer Pullover als Katzenmatratze hinein. Zur Krönung des Inhalts legte sich jetzt der erfolgreiche Anhalter auf das bequeme Polster und ließ sich ohne Protest, laut schnurrend, im Tankrucksack einschließen. Und wohin jetzt?

 

Vorsichtig ging die Reise die paar Kilometer nach Zwiefalten weiter. Eine Tankstelle war der nächste Stopp. Dort gibt's außer Benzin ja ganz sicher eine Auskunft über zum Beispiel den nächsten Tierschutzverein, war unsere Hoffnung.

 

Das hatten wir uns so schön einfach vorgestellt! Alle dort rätselten hilfsbereit um eine Lösung für das immer noch zufrieden schnurrende, verschlafen blinzelnde Reisegepäck.

 

„Riedlingen" hieß das Zauberwort. „Das ist nur noch ein Stückchen weiter auf der Hauptstraße. Dort gibt's eine Polizeidienststelle, und dort sind ja bekanntlich lauter Freunde und Helfer. Die können Euch bestimmt weiterhelfen!" lautete das einmütige Ergebnis der Besprechung der Hilfsbereiten. Also sagten wir dem Katerchen, dass es nicht mehr lange im dunklen Rucksack reisen müsse. Ein Ziel sei jetzt in Sicht. Riedlingen war nicht so schwer zu finden - die Polizeiwache war etwas versteckter.

 

Da der Kater keinen Ausweis bei sich führte, wurde er als Fundsache, Name unbekannt, in ein Formular eingetragen. Während die „Fundsache" die Polizisten mit interessiertem Blick und hocherhobenem Schwanz vom Schaffen ablenkte, kaufte Rudolf noch schnell Milch und Brekkies als Notwochenendration ein.

 

Aber ein Polizeirevier ist kein Katzenhotel. Kein Futterschälchen war aufzutreiben! Ein Raucher opferte voll Mitleid seinen Aschenbecher. Gut ausgespült schmeckt die Milch daraus gar nicht so übel, urteilte daraufhin der durstige vierbeinige Schnurrbartträger.

 

Ein Polizist hatte kurz vor Feierabend (um die Mittagessenszeit) die rettende Idee. Er telefonierte mit dem Bauhof und organisierte eine Übernachtungsgelegenheit für den so langsam erschöpften Anhalter in einer Werkstatt.

 

Dieser hilfreiche Mensch war von unserer Tierliebe so beeindruckt, dass er uns seinen Campingplatz wärmstens empfahl und uns zum Mitsegeln mit seinem eigenen Boot während unseres Urlaubs, der sich mit seinem überschnitt, einlud. Das war eine tolle Überraschung!

 

Am nächsten Morgen starteten Thomas und ich mit Auto und Hasenkäfig als Katzenbox retour nach Riedlingen. Der kleine Kater hatte sich in der Werkstatt notdürftig eingerichtet. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß, und die Heimfahrt saß er natürlich die ganze Zeit schmusend auf dem Arm und ließ sich nicht in den Käfig stecken.

 

Zuhause angekommen, stolzierte er so selbstbewusst durch die neue Wohnung, dass Nero die ‚Kinnlade herunterklappte'. Ein Name war jetzt auch schnell gefunden. Da er immer wieder wie eine kostbare Porzellankatze reglos dasaß, riefen wir ihn „Ming“.

 

Am folgenden Tag war aufgrund seines schlechten Zustands ein Arztbesuch nötig. Die schlechte Nachricht war, dass unser Findling todkrank war und nur eine geringe Überlebenschance besaß und die gute Nachricht, dass es sich bei ihm um eine Rassekatze handelte. Nun hatten wir also einen kranken Burmesen.

 

Ming hat dank Eiskaffee gegen sein hohes Fieber und seinen schwachen Kreislauf, Antibiotika, Babynasentropfen und liebevollster Versorgung in unserer Familie überlebt. Eine besondere Spezialität von ihm war, dass er beim Schmusen besonders gerne Menschenhaare putzte und dabei vor Wonne ‚trielte' wie ein tropfender Wasserhahn.

 

Nero war nicht ganz so glücklich über den neuen Konkurrenten. Nach anfänglichen nächtelangen Machtkämpfen wurde Burgfrieden geschlossen. Aber der Spitzbube Ming konnte es nicht mit ansehen, wenn Nero Streicheleinheiten bekam. Sofort war er zur Stelle und zwängte sich zwischen Mensch und Nero. Nero gab dann beinahe immer nach, nur wenn's Leber zum Fressen gab, gebrauchte er seine ‚Ellenbogen'. Außerdem verteidigte er die oberste Kratzbaumplattform als sein angestammtes Eigentum.

 

Vollkommen einig waren sich die beiden verhinderten Hochhausmäusejäger beim „Fußmäuslefangen“. Sie konnten es kaum erwarten, bis Nicole endlich eingeschlafen war und saßen dann lauernd nebeneinander am Fußende ihres Bettes. Wann spickt endlich ein Fuß unter der Decke hervor, der sich als Beute eignet? Das war Spannung bis zum Äußersten, und notfalls musste man eben mit den ungeduldigen Pfoten unter die Decke fahren und etwas nachhelfen. Was haben wir beim Beobachten gelacht!

 

Beim Spielzeugverteidigen hat Ming sogar einen in die mit Wasser gefüllte Badewanne gefallenen Korken mit einem todesmutigen Sprung wieder erobert. Nero beobachtete diese Rettungsaktion von außen, auf den Hinterpfoten stehend und über den Wannenrand staunend, voll Bewunderung! Der nasse Rettungsschwimmer sah danach zum Erbarmen aus - wie eine tropfnasse Wasserratte.

 

Im Bett hatte jeder seinen Stammplatz bei ‚seinem Menschen. Ming kuschelte sich in Thomas Bart - der hatte beinahe die gleiche Farbe wie sein Fell (mahagonle), und Nero legte sich zu mir auf die Brust oder auf den Bauch - bei seinen 8 kg wurde das Luftholen etwas erschwert.

 

Der ‚Herr Ming' ließ sich gerne verwöhnen und von Nero bei der Fellpflege helfen. Nur umgekehrt war er sehr sparsam mit Putzhilfe. Als echter Burmese war man schließlich ein absoluter Strahlemann und großer Charmeur - Adel verpflichtet. Er ließ sich von fast jedem streicheln, egal ob fremd oder bekannt.

 

Etwa ein viertel Jahr nach unserem Umzug nach Nellmersbach kam er nicht mehr heim. Wir haben ohne Erfolg noch wochen- und monatelang nach ihm gesucht.

 

von Cornelie Bühler-Krimmer